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Wanderreportagen

Einsame Bergseen im Valposchiavo

Mit ihren glatten Oberflächen geben Bergseen Einblick in die Unendlichkeit. Viele von ihnen sind deshalb beliebte Ausflugsziele. Doch es gibt auch die anderen – einsame, verlassene Juwelen, die man sich erwandern muss.
12.07.2024 • Text und Bilder: Andreas Staeger
Der obere Lagh dal Teo. Im Hintergrund der Piz Palü mit dem Vadret da Palü (Palügletscher).

Der Lagh da Saoseo gilt als einer der schönsten Bergseen im Alpenraum. Von Weitem scheint sein Wasser kobaltblau zu leuchten, doch wenn man am Ufer steht, erweist es sich als so klar, dass man fast jeden einzelnen Stein am Seegrund erkennen kann. Auf der glatten Wasseroberfläche spiegeln sich der Wald um den See und der Himmel über dem Bündner Südtal Valposchiavo. Der See hat den grossen Vorteil, dass er gut zugänglich ist: Von der Bushaltestelle Alp Camp braucht man zu Fuss bloss eine Viertelstunde.

Doch Vorzüge können sich manchmal als nachteilig erweisen. In den letzten Jahren hat sich der Saoseo-See von einem Geheimtipp zu einem touristischen Hotspot entwickelt. Jetzt sind dort allerlei Regeln notwendig: Wildcamping und Drohnenflüge sind untersagt, ebenso das Entfachen von Feuer und das Freilaufenlassen von Hunden. Es gibt nicht nur Verbote, sondern auch Leute, die sie freimütig ignorieren.

Farbpalette mit vielen Nuancen

Doch zum Glück gibt es Alternativen. Das Valposchiavo verfügt über eine bunte Vielfalt an Seen, Seelein und Tümpeln. Die einzelnen Gewässer unterscheiden sich bezüglich Charakter, Form und Farbe deutlich. Entsprechend reichhaltig ist die Farbpalette.

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Vom Gipfel des Piz Campasc aus scheint der Lago Bianco tief türkisblau.

Sozusagen den Auftakt zum Tal bildet der Lago Bianco am Berninapass, dem oberen Eingang ins Valposchiavo. Der Stausee ist aus zwei natürlichen Bergseen hervorgegangen, von denen einer vom milchigen Schmelzwasser des Cambrenagletschers gespeist wurde. Entgegen seinem Namen zeigt er sich heute nicht mehr weisslich, sondern leuchtend blau, was sich besonders schön vom nahen Piz Campasc zeigt. Die Bergwanderung von der Bahnstation Ospizio Bernina auf den Gipfel und zurück dauert nicht einmal drei Stunden; sie eignet sich deshalb gut als Halbtagestour auf der An- oder Rückreise ins Valposchiavo.

Der See des Verrückten 

Das Gegenstück zum Lago Bianco ist der fast 1300 Meter tiefer mitten im Talgrund liegende Lago di Poschiavo. Dieser weist einen grünlichen Farbton auf, da er fast rundum von bewaldeten Hängen umgeben ist. Auf Uferwegen lässt er sich in knapp zwei Stunden umrunden. Aus Distanz scheint er ein einladender Badesee zu sein, doch zum Schwimmen eignet er sich wegen der steilen und steinigen Ufer nur bedingt.

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Der Lago di Poschiavo im Talboden ist für einen Spaziergang gut erreichbar. Bild: Severin Nowacki

Für diesen Zweck kommt ein anderer, allerdings weniger zentral gelegener See besser infrage. Ganz im Süden, nahe der Grenze zum Veltlin, liegt im Seitental Val dal Saent der Bergsee Lagh dal Mat. Satte vier Stunden benötigt man, um ihn zu Fuss ab der Rufbus-Haltestelle im Dörfchen Cavaione zu erreichen. Auf Deutsch bedeutet sein Name «See des Verrückten». Die wenig schmeichelhafte Bezeichnung geht auf alte Zeiten zurück. Während es heute nicht ungewöhnlich ist, dass sich jemand an einem heissen Sommertag in einem kühlen See erfrischt, wurde früher nur selten gebadet – und schon gar nicht in einem Bergsee. Wer es anders handhabte, den hielt man für nicht ganz dicht. So erging es auch einem Senn, der gerne ab und zu in jenem See ein Bad nahm. Noch heute heisst es, die Talbewohner hätten die Köpfe geschüttelt, als sie davon erfuhren.

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Der Lagh dal Mat, schon fast im Veltlin, ist der See des Verrückten.

Der jüngste See des Tals

Nicht minder abgelegen, zum Schwimmen aber weniger gut geeignet sind zwei namenlose kleine Bergseen auf dem Höhenzug, der das Valposchiavo vom norditalienischen Valle Poschiavina scheidet. Sowohl das Seelein am Pass da Cancian als auch jenes unweit davon am Pass d’Ur weist nur eine bescheidene Tiefe auf. Beide liegen dicht an der Landesgrenze. Erreichbar sind sie auf einer sechsstündigen Rundwanderung mit Ausgangs- und Zielpunkt bei der Rufbus-Haltestelle Selva. Die Tour ist aufgrund der Länge zwar recht anstrengend, führt aber durch eine einmalig schöne gebirgige Wildnis bei gleichzeitig grossartigen Tiefblicken in die Täler dies- und jenseits der Grenze.

Einen ganz anderen Charakter hat die Wanderung zu einem der jüngsten Bergseen der Schweiz. Der Lagh da Caralin ist ein Kind des 21. Jahrhunderts; auf älteren Landeskarten gibt es ihn noch nicht. Die Tour führt von der Alp Grüm zuerst hinunter zum Stausee Lagh da Palü und dann hinauf in einen riesigen Felskessel in der Ostflanke des Piz Palü. Derzeit ist der Weg aber unpassierbar, weil ein Unwetter Brücken zerstört hat.

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Der Lagh da Caralin ist einer der jüngsten Bergseen der Schweiz. Der Gletscher hat ihn freigegeben.

Die Zunge des Palü-Gletschers reichte früher bis in den Felskessel. Nach dem Abschmelzen der Eismassen bildete sich in der Mulde ein Gletschersee, dessen eisiges Wasser graugrün schimmert. Die einstige Todeszone des ewigen Eises hat sich im Laufe der vergangenen zwei Jahrzehnte langsam, aber klar erkennbar zu begrünen begonnen. Noch immer dominieren zwar rötlich-braun schimmernde Felsblöcke das Gebiet um den See, doch dazwischen spriessen überall Pflänzchen und setzen bunte Farbtupfer in die lebensfeindliche Umgebung.

Kein Dichtestress

Ein wahres Juwel unter den verschiedenen Bergseen des Valposchiavo ist schliesslich der Lagh dal Teo. Er liegt in einer Geländekammer, die ans Val da Camp grenzt, und befindet sich damit nur wenige Kilometer vom vielbesuchten Lagh da Saoseo entfernt. Doch während man dort mit einem Spaziergang hinkommt, ist hier ein mehrstündiger Anmarsch erforderlich. Wegen der Abgelegenheit ist dafür am Ziel jeglicher Dichtestress ausgeschlossen.

Den Lagh dal Teo gibt es gleich mehrfach: Den unteren Bergsee erreicht man im Rahmen einer fünfstündigen Rundwanderung mit Ausgangspunkt bei der Bushaltestelle Sfazù, die am unteren Ende des Val da Camp liegt. Noch ein paar Gehminuten höher befindet sich sein etwas kleinerer Bruder; neben ihm liegt ein drittes Seelein, das allerdings so klein ist, dass man es eher als Tümpel bezeichnen muss. Gemeinsam ist den zweieinhalb Bergseen, dass sie in einer sehr schönen und wilden Gebirgslandschaft liegen und obendrein ein grossartiges Panorama bieten. Blau schimmert der untere See, grünlich die beiden oberen, und über alle hinweg geht die Sicht zum fernen Piz Palü auf der gegenüberliegenden Talseite.

Kristallklarer Lagh dal Teo im Puschlav
Sfazù, Fermata • GR

Kristallklarer Lagh dal Teo im Puschlav

Die Hochebene Al Teo ist ein etwas abgelegenes und deshalb nur schwach frequentiertes Kleinod hoch über dem Talboden von Poschiavo. Zwei malerische Bergseen und ein Tümpel schmiegen sich in die weite Mulde am Fuss des Piz dal Teo. Der 3047 Meter hohe Gipfel sieht so aus, wie Kinder Berge zeichnen, nämlich mit unwahrscheinlich abschüssigen Seitenhängen. Das hat ihm wohl auch zu seinem Namen verholfen: Darin steckt das lateinische Wort «taeda», das wörtlich «Tanne» heisst und im übertragenen Sinn auch Fackel bedeuten kann – was zur Form des Berges passt. Die Bergseengruppe Lagh dal Teo lässt sich auf einer sehr abwechslungsreichen Rundwanderung erreichen. Vom Ausgangspunkt Sfazù geht es zunächst zum Weiler Terzana im Val da Camp. Nach dem gemütlichen Einstieg folgt eine steile Aufstiegspassage: Über eine 300 Meter hohe bewaldete Geländestufe gelangt man zur Moorlandschaft von Munt da San Franzesch, von dort dann wieder bei geringerer Steigung über den Alpstafel Aurafreida ins Val dal Teo. Am oberen Ende des Tälchens liegt eine grossartige Naturarena mit einem kristallklaren Bergsee – dem unteren Lagh dal Teo. Wegspuren und Trampelpfade führen an sein hinteres Ende und über eine weitere Geländestufe hinauf zu einem zweiten See; neben diesem liegt ein drittes Seelein, das aufgrund seiner bescheidenen Grösse eher als Tümpel einzustufen ist. Schroff und abweisend wölbt sich über der kleinen Gruppe von Bergseen der Höhenzug, dem auch der Piz dal Teo angehört, der aus der Nähe allerdings kaum mehr markant in Erscheinung tritt. In einem grossartigen Kontrast zu dieser nahen und wilden Szenerie steht der Ausblick zum fernen Piz Palü. Für den Rückweg ins Tal benützt man zunächst die Aufstiegsroute. Von Aurafreida geht es dann auf einem Alpsträsschen nach Mota, von dort über den schmucken Alpstafel Pisceo nach Festignani und zurück nach Sfazù.

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Andreas Staeger

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Südostschweiz Magazin DAS WANDERN

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