32 Jahre später
Lumino – was für viele einen weissen Fleck auf der Schweizer Karte darstellt, bedeutet für mich ein gutes Stück schönster Kindheitserinnerungen. Wunderbare Wochen durfte ich mit Eltern und Zwillingsbruder in diesem beschaulichen Dörfchen verbringen. Als Gast bei Verwandten mütterlicherseits, einquartiert im westlichen Trakt ihrer Villa. Zusammen mit dem sie umgebenden herrschaftlichen Park und dem darin befindlichen Swimmingpool war es schlicht paradiesisch, nicht nur für uns Kinder. In 200 Meter Distanz befand sich schon damals die Talstation der Funivia Pizzo di Claro. Ihre Anziehungskraft war magisch, wollte ich doch bereits als Knirps jeden Gipfel erklimmen um zu erfahren, was es dort oben zu sehen gab. Einmal auf dem Hausberg von Lumino stehen, das war deshalb ein erklärtes Lebensziel. Jetzt, 32 Jahre später, war es soweit. Und ich fand auch 2500 Höhenmeter über dem ehemaligen Feriendomizil das Paradies.
Schon alleine des langen Reisewegs wegen war klar, dass diese Wanderung unbedingt mit einer Hüttenübernachtung verbunden werden sollte. Die Capanna Brogoldone war das Objekt der Begierde. Es ist nicht das typische Bild einer SAC-Hütte. Ihre Lage auf einer Alp und ihr länglicher Bau mit Nebengebäude erinnern vielmehr an einen Rinderstall. Aber das Parfüm der Wolldecken beseitigt sofort jeden Zweifel. Zwei Schlafsäle und vier Viererzimmer bieten insgesamt 57 Personen Platz zum Übernachten. Nur 1h 30min dauert der Zustieg ab Bergstation Monti di Saurù (was dieser kryptische Name wohl bedeuten mag?); die Hütte ist also bestens für Familien und Tagesausflügler geeignet.
Ungewohnt früh am Nachmittag erreiche ich mit meinem Begleiter das Nachtlager. Eingehüllt in warme Decken bietet sich somit Zeit für Musse. Es ist Sonntag, und die Tagesgäste brechen zum Abstieg auf. Zurück bleiben nur die Hüttenwartin Nico, ihre beiden Gehilfen, zwei vierbeinige Genossen, ein Übernachtungsgast und wir beide. Am Kamin, das extra unsertwegen eingefeuert wird, verbringen wir gemütliche Stunden in familiärer Atmosphäre und erfahren, dass Nico in jungen Jahren in Afrika gelebt hat. Unsere Gaumen werden beim Znacht mit knackfrischem Salat, deftiger Suppe, butterzartem Rindsbraten, chüschtiger Polenta und Marronicrème verwöhnt.
Am nächsten Tag schickt uns der Nordföhn zwar immer noch ein paar wolkige Boten, aber diesmal beeinträchtigen sie wenigstens die Aussicht nicht mehr. Den Pizzo di Claro erreichen wir nicht mühe-, jedoch problemlos. Fantastisch, was man hier auf einem der höchsten Tessiner Gipfel alles zu sehen kriegt. Ein 360° Panorama inklusive Poebene und Rückenansicht der Berner Alpen, was für ein Bild! Mein Begleiter ist ein wandelnder Schweizer Atlas und kann den Grossteil der Höger treffsicher benennen. Die Geografiestunde wird einzig durch eine Herde Schafe unterbrochen, die sich sehr für uns und noch viel mehr für unsere Ausrüstung interessiert. Wir wollen sowieso ins Bündnerische Calancatal absteigen und müssen deshalb zeitig weiterwandern. Vor uns liegen noch 1500 Höhenmeter und nicht zu vergessen eine lange Heimreise. Die Zeitangaben auf den Wegweisern sind plötzlich etwas irritierend, wodurch sich der Abstieg unerwartet hektisch gestaltet. Ab Landarenca als Etappenziel führt wiederum eine kleine Gondelbahn ins Tal und zur Postautostation. Dumm nur, wenn die monatliche Revision ausgerechnet auf diesen Tag fällt… Unser Stossgebet wird zum Glück erhört, und so werden wir trotzdem nach unten befördert. Es bleibt sogar noch kurz Zeit für ein Gazosa im Restaurant. Die Rückreise versüssen wir uns mit Tessiner Spezialitäten. Wir suhlen uns in den schönen Eindrücken dieser Wanderung, aber planen doch auch bereits die nächste Tour…
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