Ich war noch niemals…
„Sefinafurgga, Gemmi und Pizol – da warst du ja sicher alles schon!“ Das muss ich mir als Redaktionsleiter und Wanderpapa der Schweizer Wanderwege immer wieder anhören. Meine Gesprächspartner sind oft überzeugt, dass ich in meinen Funktionen schon mindestens sämtliche 65‘000 Kilometer des Schweizer Wanderwegnetzes persönlich abgewandert habe.
Vor einigen Wochen war ich an der offiziellen Eröffnung des Kolumbansweg. Anschliessend haben wir die Etappe von Wettingen nach Dietikon absolviert – ich befand mich mehrheitlich unter Damen und Herren in der zweiten Hälfte ihres Lebens, eine sehr spannende Generation, die viel Spannendes zu erzählen weiss. Es war eine vergnügliche Wanderung, auch wenn die Zeichen der Zivilisation etwas zu viel waren aus meiner Sicht. Pilgern ist nicht nur Vergnügen, dachte ich mir aber.
Es ging jedenfalls nicht lange, bis mir der erste Teilnehmer von seinen Wanderprojekten zu erzählen begann. Die Via Alpina habe er schon gemacht, die Via Jacobi sowieso schon vor langer Zeit, und sämtliche Seen der Schweiz habe er auch schon umwandert (oder waren es alle Kantone?). Aber auch Tageswanderungen seien wunderbar, „Sefinefurgge, Gemmi und Pizol, einfach beeindruckend, aber wem erzähle ich das schon?“ Und im Berggasthaus Äscher im Appenzellerland ist es halt schon schön, diese Stimmung, diese Aussicht! Auf der malerischen Greina-Ebene. „Aber da warst du ja sicher überall schon, …“
Zum Glück kann ich mich meist erfolgreich durch solche Gespräche schummeln. Nach über 50 Ausgaben des Magazins WANDERN.CH, die ich in den letzten acht Jahren verantwortet und erarbeitet habe, bin ich viel in der Schweiz herumgekommen. Jedenfalls in Gedanken. In jeder Ausgabe gibt es acht Wandervorschläge, das sind also 400 Wanderungen, deren Beschriebe ich mehrmals gelesen, auf der Karte nachvollzogen und Fotos davon begutachtet habe. Manchmal habe ich mich so genau in diese Wandervorschläge eingearbeitet, dass ich ein Gefühl habe, als wäre ich selbst dort gewesen. Es ist mir auch schon passiert, dass ich in eine Diskussion über einen Ort spontan eingestiegen bin, obwohl ich nie dort war. Und mich gar nicht so schlecht geschlagen habe.
„Da war ich nie!“
Oft sage ich aber auch einfach nur „Nein, da war ich noch nie“, und fange dann einen überraschten Blick ein oder höre ein erstauntes „Was???“. Es ist wirklich so: Die Sefinafurgga hab ich nicht gemacht. Weder Gemmi noch Greina habe ich in Natura gesehen. Die fünf Seen im Pizolgebiet kenne ich nur vom Papier. Ich hab nie in der Blüemlisalphütte geschlafen, auch nie im Äscher im Alpstein ein Bier getrunken.
Langsam hole ich aber auf: Den Aletschgletscher habe ich mir vor einem Jahr das erste Mal verdient, und auf dem Gurnigel, dem Berg, den Berner Wanderer noch vor dem Frühstück gemacht haben sollten, war ich erst vor kurzem (im Nebel und ohne Aussicht, aber ich war oben und kann fortan mitreden, das zählt). Ich hab in den letzten Jahren in der Hörnlihütte am Fusse des Matterhorns geschlafen und war auf Muottas Muragl. Hab den Grossen Mythen bezwungen und den Etang de la Gruère umrundet – mehrmals sogar.
Rosige Zukunft
Ich freue mich schon heute auf die Zeit, wenn meine Kinder erwachsen sind, ich mich langweile, irgendwann pensioniert werde und dann pro Woche drei Wanderungen machen kann und mir irgendein verrücktes Projekt ausdenken kann als Legitimation, nie zur Ruhe kommen zu müssen: Ich könnte zum Beispiel alle Stromleitungen des Landes abwandern (vielleicht kommt mir bis dann noch eine bessere Idee, ich habe noch etwas Zeit).
Bis dahin begnüge ich mich mit profaneren Wanderzielen. Ich entdecke mit meinen Kindern zusammen dunkle Tunnel im Scherligraben oder tiefe Höhlen im Val-de-Travers, erforsche den Bachtelspalt, wandere im November stundenlang in Bachbetten und durchwate alle fünf Minuten den eiskalten Bach, suche nach Sandsteinelefanten rund um Bern. Wenn ich jeweils davon erzähle, interessiert das die Damen und Herren im besten Alter jeweils nicht so sehr, denn dort waren sie selber nicht (Sefinafurgga, Gemmi und Pizol – ihr wisst ja). Sie müssten sonst ja mir zuhören, und nicht ich ihnen.
PS. Das war jetzt zum Schluss etwas böse, zugegeben. Natürlich geniesse auch ich es ab und zu, mit Gleichgesinnten von Erlebtem zu schwärmen und über Orte zu fachsimplen. Nur treffe ich leider selten Wanderer, die schon mal in den Lobsiger Höhlen waren. Und so summe ich halt immer wieder mal die Melodie von Udo Jürgens‘ Lied: „Ich war noch niemals auf der Sefinafurgga, ich war noch niemals auf der Gemmi, ging nie zum Pizolsee in zerrissnen Jeans.“
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