Immer der Nase nach
Manchmal frage ich mich, wieso ich eigentlich so gerne wandere. Es gibt sicher tausend Gründe, und selbst dann wäre die Liste noch nicht abschliessend. Aber ein Grund, über den ich mir während des Wanderns immer wieder bewusstwerde, ist die Nase. Wandern bringt mich in neue Duftlandschaften, an neue Orte mit neuen Gerüchen, die mich aus dem Alltag holen, mich entspannen und mich in die Natur eintauchen lassen.
Unser Geruchssinn hat etwas Magisches an sich. Wir haben Millionen von Geruchsnerven (weit mehr als Geschmacksnerven) und trotzdem sind wir uns die meiste Zeit gar nicht der Düfte um uns herum bewusst. Wenn du jetzt diese Zeilen liest, wird dir wohl kaum bewusst sein, was für Gerüche präsent sind. Im Normalfall filtert unser Gehirn diese Information nämlich einfach heraus. Wir nehmen nicht wahr, was uns bekannt ist. Was normal ist. Wenn die Wohnung oder das Büro so riechen wie immer, wird diese Information vom Gehirn einfach aussortiert. Wenn aber ein neuer Duft aufkommt, wird diese Information relevant zum Einschätzen der Situation und unsere Aufmerksamkeit wird darauf gelenkt: Zum Beispiel wenn ein Feuer ausbricht oder jemand Mittagessen kocht.
Beim Wandern stosse ich ständig auf neue Düfte. Feuchtes Laub, Nebelschwaden am Morgen, Tannennadeln, frisches Moos: Alle haben ihren eigenen Geruch. Beim Wandern bewegen wir uns nicht nur physisch über den Weg, sondern auch mit der Nase durch die Landschaft der Düfte. Nicht nur Orte, sondern auch Jahreszeiten haben ihre Düfte. Der Wald ist ein anderer im Frühling, wenn die ersten Blätter zum Vorschein kommen. Und im Herbst kann man die Pilze manchmal richtig riechen – oder so kommt es mir zumindest vor.
Obwohl wir sie die meiste Zeit nicht bemerken, können Düfte starke Erinnerungen hervorrufen und uns geradewegs an andere Orte teleportieren. Kühle Luft und Meersalz im Wind, zum Beispiel, erinnern mich an Spaziergänge zum «Bois de Merlin» in meiner Kindheit und die Bretagne. Wissenschaftler gehen sogar davon aus, dass Düfte zentral bei der Partnersuche sind… es scheint also etwas dran zu sein, wenn man sagt «ich kann dich nicht riechen».
Gewisse Düfte liebe ich. Wenn im Sommer, nach einem heissen Tag, ein Gewitter vorbeigezogen ist, liegt dieser unverwechselbare Geruch in der Luft. Regen und feuchte, warme Erde. Er hat sogar einen Namen: Petrichor. Zusammengesetzt aus Petra für Stein und Ichor, in der griechischen Mythologie die Flüssigkeit, die durch die Adern der Götter floss. Ich glaube, ich hätte mich mit den alten Griechen gut verstanden.
Ich weiss nicht, wie all die anderen Düfte heissen, denen ich auf meinen Wanderungen begegne. Tausend blühende Blumen im Frühling, frisches Heu, die kalte Luft, wenn man aus dem Gondeli steigt. Sie haben keine Namen und sind doch alte Bekannte. Sie entspannen mich und lassen den Alltag in den Hintergrund rücken. Vielleicht erinnern sie mich auch unbewusst an die Jahrtausende, die wir in diesen Gerüchen verbracht haben. Als wir noch täglich durch Wälder und Wiesen streiften und für unser Überleben auf unsere Nase angewiesen waren. Lange bevor wir in Autos, hinter Glas durch die Gegend rasten oder am Bildschirm zoomten.
Die nächste Wanderung kommt schon bald. Und ich werde weiterhin «der Nase nach» wandern.
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