Wandern für Selbstlose

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30.08.2017 • Wanderpapa

Wandern für Selbstlose

Die Suche nach Gottesanbeterinnen führt meine zwei Söhne und mich ans Rhoneknie. Doch die Bagger, Betonmischer und Krane des Rhonetals beeindrucken den kleinen Lichterprinz schliesslich mehr als die in der Schweiz seltenen Insekten.

Auf der Anreise zweifle ich noch, ob es eine gute Idee war, ins Unterwallis zu reisen, um irgendwelche seltene Insekten zu suchen. Während andere bei solch Topwetter hoch oben an der Frische prächtige Panoramawanderungen geniessen, wandern wir zwischen Industrie, Autobahn und Weinbergen. Doch die Stimmung ist gut unter uns Giele: Denn diesmal hat sich die Zauberfee abgesetzt bei ihrer Gotte, und ich bin mit dem zehnjährigen Zwergenkönig und dem dreijährigen Lichterprinz unterwegs. Diesem passt die Aussicht bestens: Lastwagen, Bagger und Betonmischer gibt es im Tal zuhauf zu sehen, dazu Pferde, Traktoren und Kamine. Und als es dann zu Beginn steil bergauf geht, konzentriert er sich aufs Geschehen in Bodennähe: Da krabbeln schwarze Käfer, springen Heuschrecken, sonnen sich Eidechsen.

Zum Glück habe ich nur eine eineinhalbstündige Tour vorbereitet, der Aufstieg ins Naturschutzgebiet Les Follatères könnte sich etwas in die Länge ziehen. Schliesslich erreichen wir einen markanten Felskopf, wo uns eine getarnte Militäranlage erwartet: Der Betonklotz fasziniert den Zwergenkönig, neugierig inspiziert er die Schiessscharten. Wir essen unser Picknick und diskutieren die Aussicht, als betrachteten wir die Landschaft einer riesigen Modelleisenbahnanlage.
Papa freuts, der Kleine schreit
Nun beginnt die Suche nach den Gottesanbeterinnen, jenen filigranen Kreaturen, welche ihre Männchen bei der Paarung bei lebendigen Leibe verspeisen. Viel mehr wissen die meisten ja nicht über das Insekt, das im Frühling zahlreiche Larvenstadien durchmacht und jedes Mal die Farbe wechselt – je nach Umgebung grün oder braun. Mit der fünften Häutung ist das Wechselspiel vorbei. Sie sind nun – vom Sommer bis Spätsommer – einfacher zu finden. Theoretisch jedenfalls. Wir wandern der Bergflanke entlang nordwärts, steil sind die Grashänge, es kreucht und fleucht, doch weit und breit sind keine Gottesanbeterinnen zu finden. Mit jedem Höhenmeter hinunter ins Tal sinkt unsere Zuversicht, bis wir das letzte Feld erreichen, bevor der Wanderweg flach im Tal weiter verläuft.

Hier entdeckt der Zwergenkönig endlich die fünf Zentimeter langen Tierchen, nur einen halben Meter vom Wegrand entfernt. Die Freude ist gross bei uns dreien, flacht aber beim Lichterprinz hinten in der Rucksacktrage schnell ab. Zum Glück lassen sich die Gottesanbeterinnen von seinem lauten Geschrei nicht verjagen, der Kleine ist müde und will weiter, im Wandertrott schaukelnd einschlafen und nicht wie der Papa minutenlang ins Gras starren. Mit einem kleinen Zvieri kann ich den Aufbruch noch etwa zehn Minuten herauszögern, dann gönne ich dem Lichterprinz das Schläfchen, auch wenn es nun für ihn wieder spannend würde: Der Weg führt entlang der Rhone, über eine Strassenbrücke und durch Industriegebiet zum Bahnhof von Vernayaz. Der Zwergenkönig und ich hängen unseren Gedanken nach. Mein Blick streift ein letztes Mal über die hohen Gipfel: Zufrieden stelle ich fest, dass mich die prächtigen Panoramawanderungen dort oben nicht mehr kümmern – wenigstens heute nicht.

Für die Männchen der Gottesanbeterinnen ist es übrigens in Ordnung, aufgefressen zu werden. Es dient ihrem einzigen Ziel, der Fortpflanzung. Ist das Weibchen satt, kann es mehr Eier produzieren. So einfach ist das. Richtig selbstlose Wesen, diese Gottesanbeter.

Die Wanderung ist auf www.wandern.ch unter der Rubrik „Ich will wandern“ abrufbar. Wandervorschlagsnummer 1224.

Rémy Kappeler bloggt auch für den Outdoorblog des Tages-Anzeigers. Dieser Post ist auch dort erschienen.

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