Wer hat Angst vom Türst?
Eines Novembertages juckte es mich in den Füssen. Ich musste raus aus der Stadt. In die Natur. Abschalten. Nicht sprechen. Alleine sein. Stille geniessen.
Ich schnappte mir den Alpinchihuahua und stieg in den Zug in Richtung Luzern. Aber nicht etwa in die Berge, nein, wir wollten uns diesmal eine uns etwas unbekanntere Region vorknöpfen. So zog es uns vom Luzerner Bahnhof noch eine halbe Stunde S-Bahnfahrt weiter nach Menznau. Die Wanderung begann höchst unspektakulär, aber sehr idyllisch. Als wir einen Hof passierten, kam aus der Türe eine verhutzelte alte Frau, grüsste freundlich, meinte: «Passen Sie bloss auf, dass Ihnen der Türst nicht begegnet», und verschwand im Stall.
Ich nickte, obwohl ich überhaupt keine Ahnung hatte, wovon sie sprach. Türst? Was ist bitte ein Türst? Aber mein Smartphone ist immer griffbereit, also suchte ich beim Weiterwandern nach einer Definition und fand sie gar auf Wikipedia:
Der Türst ist eine Sagenfigur aus dem Luzerner Hinterland, die noch aus heidnischen Zeiten stammt. Er wird als «höllischer Jäger» bezeichnet, vor dem sich die Menschen an stürmischen, von Unwetter begleiteten Jahreszeiten hüten sollten. Von Region zu Region gibt es andere Beschreibungen dieser Sagenfigur.
Die Merkmale Türsts, die in den meisten Versionen übereinstimmen, sind zum einen seine Drohung «drü Schritt rechts, gang uswägs» bei der man bei nicht rechtzeitigen Ausweichen, nach einer Wolhuser Sage, in Hundsgestalt verwandelt wird und dem Türst sein Leben lang «ohne Rast und Ruh» folgen muss. Des Weiteren wird davor gewarnt die Tore der Tenne im Winter offen zu halten, damit der Türst ungehindert durch die Scheune hindurch jagen kann. Die Sträggele, eine hässliche Hexe, die angeblich seine Frau ist, kommt in einigen Sagen Türsts vor. In anderen Sagen wird dem Türst nachgesagt, dass er das Vieh der Sennen so sehr erschreckt und verwirrt, dass die Kühe lange Zeit keine Milch mehr produzieren.
Quelle: Wikipedia
Aha, eine Sagengestalt also. Nun gut, Sagen finde ich cool und da ich mich gerade in einem solchen Sagengebiet befand, informierte ich mich doch sehr gerne weiter. Zumal die Bezeichnung «höllischer Jäger» nicht unbedingt sehr viel Gutes verheissen liess…
In Horw wird der Türst von kleinen Hunden gefolgt, an deren Spitze ein einäugiger Hund steht. Zu Türsts Gefolge gehören zum einen die kleinen Hunde mit dem einäugigen Hund an der Spitze, zum anderen die Sträggele, seine Frau und die Pfaffenkellnerin, ein Gespenst mit glühenden Augen.
In Wolhusen wird erzählt, dass der Türst in Gestalt eines grossen, schwarzen Hundes auf die Jagd gehe und dass jeder, dem ihm nicht rechtzeitig aus dem Wege geht, in einen Hund verwandelt werde und sein Leben lang als Gefolge dienen müsse.
Wolhusen lag ganz in der Nähe unserer Wanderroute. Immerhin wusste ich jetzt, was zu tun war, sollte uns also dieser Türst begegnen. Drei Schritte nach rechts würden auch auf einem schmalen Wanderweg noch drinliegen. Auch wenn ich Hunde sehr gerne mag, wollte ich trotzdem lieber nicht als ein solcher enden. Und obendrein ohne Rast und Ruh mein Leben lang irgend einem Typen folgen? Nein, merci.
«Was mache ich mir eigentlich für Gedanken?» fragte ich mich beim Weitergehen. Das Dörfchen hatten wir passiert, wir wanderten nun verschiedensten Feldern und am Waldrand entlang und atmeten die frische Landluft.
Ein Gefolge von kleinen Hunden stelle ich mir persönlich als ein Stück des Himmels vor, ein einäugiger Hund wäre auch noch ganz OK, aber mit glühäugigen Gespenstern und Hexen wollte ich es nun doch nicht aufnehmen. Er schien trotz alldem ein interessanter Typ zu sein, dieser Türst. Sicherlich ein Hundefreund. Sollte es also hart auf hart kommen und wir dieser mystischen Sagengestalt begegnen, hätten wir sicher schon einmal etwas gemeinsam.
Die gelben und orangen Blätter raschelten an den Bäumen, da ein kleines, dennoch sehr kühles Lüftchen aufzog. War mein Chihuahua bis anhin konzentriert beim schnüffelnden Erkunden der Gegend gewesen, stellten sich ihm plötzlich alle Rückenhaare auf und er begann, leise zu knurren. Ich schaute mich um. Es war keine Menschenseele zu sehen. «Vielleicht hat er ja die Pfaffenkellnerin mit ihren glühenden Augen gesehen», dachte ich mir und musste darüber leise lachen. Das Lachen blieb mir aber etwa zwischen Hals und Gaumen stecken, da ich hinter mir viele schnelle Schritte im Laub vernahm.
Das Blut gefror in meinen Adern. Wie aus dem Nichts war ein grosser schwarzer Hund hinter uns aufgetaucht. Er musste uns schon lange gefolgt sein, denn weit und breit war kein Hof oder Haus zu sehen. Aber wieso hatte denn mein Hund erst jetzt angegeben? Normalerweise fängt er laut an zu bellen, wenn ihm etwas nicht geheuer ist. Jetzt fixierte er aber diesen schwarzen Riesenhund, fletschte die Zähne und knurrte, was er nur konnte. Ich tat das einzig Richtige: Ich machte diese drei Schritte nach rechts und liess den Hund durch!
In seinem Vorbeigehen erhaschte ich einen Blick auf sein Gesicht. Er hatte nur ein Auge.
Dämmerung im Hinterland
Diese Wanderung durch die sanfte Hügellandschaft des Luzerner Hinterlandes eignet sich hervorragend für einen herbstlichen Nachmittag. Der Weg verläuft mehrheitlich flach, vorbei an Wiesen, Bauernhöfen und Kapellen. Start ist das Dörfchen Menznau, ungefähr eine halbe S-Bahn-Stunde von Luzern entfernt. Vom Bahnhof geht es zunächst hoch und über die Allmend nach Geiss. Hier ist die Welt noch in Ordnung: friedlich grasende Kühe, freundliche freilaufende Hofhunde und Kinder auf dem Nachhauseweg von der Schule. Im Ort befindet sich die Pfarrkirche St. Jakobus - ab hier gehen die Wandernden auf dem Jakobsweg. Dieser führt zunächst an Feldern entlang und nachdem ein orange behangener Blättertunnel passiert ist, durch den ruhigen und besinnlichen Galgebergwald. Bei der Abzweigung beim Weiler Galgeberg verlässt man den Jakobsweg in Richtung Soppisee, oder man ist in Stimmung und macht noch einen Schlenker zur Kapelle St. Gallus und Erasmus in Buholz. Beim Hof Dünnhirs ist es dann kurz vorbei mit der Stille: Auch wenn man sagt, dass bellende Hunde nicht beissen, ist man bei diesen wolfsähnlichen Vierbeinern trotzdem froh, dass sie sicher in einem grossräumigen Zwinger sind. Wieder still wird es beim Soppisee. Dort lässt sich die Abendstimmung in allem Frieden geniessen. Von blassrosa bis orange leuchtet der Himmel, die Wölkchen schweben grau bis violett und vom Boden steigen schwache Nebelschwaden auf. Bevor es zu kühl wird, geht es weiter dem Seeufer entlang zu den gepflegten Höfen bei Soppensee, Schore und Soppestig. Dort muss vorsichtig die Überlandstrasse passiert werden. Die nächste Kapelle St. Ulrich steht mitten auf dem Bauernhof und von dort geht es an der pittoresken Kapelle St. Ottilien vorbei nach Buttisholz mit seiner Kirche St. Verena und dem Schloss (in Privatbesitz). Von Buttisholz lässt sich die Wanderung zur Ganztageswanderung bis zum Sempachersee verlängern.
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